Einer meiner ehemaligen Kollegen hat sich nach seinem Studium ein Jahr Auszeit gegönnt und ist durch die USA gereist. Unter anderem hat er in dieser Zeit als Ranger in einem Nationalpark gearbeitet und von dort jede Menge Fotos und Videos von Bären mitgebracht. Beeindruckende Tiere. Sie können klettern, sind hervorragende Schwimmer und laufen bis zu 50 km/h schnell. Sie können den Inhalt von Konservendosen durch einen geschlossenen Kofferraum wittern und wer schon einmal gesehen hat, wie mühelos ein Bär die Heckscheibe eines Autos mit einer Tatze eindrückt, um an die besagten Konservendosen zu kommen, der ist mehr als beeindruckt. Kurz – sie sind perfekte Jäger und haben eigentlich – bis auf den Menschen – keine natürlichen Feinde. Und genau das ist der Grund, warum es in Zirkussen keine wirklichen Bärendressuren gibt.
Überlebenswichtig: Emotionen erkennen und nachempfinden
Als Menschen können wir etwas, was kein anderes Säugetier in dieser Weise kann: Wir haben eine ausgeprägte Fähigkeit zur Empathie. Uns ist es ohne große Mühe möglich, allein an der Mimik eines anderen Menschen abzulesen, wie dieser sich gerade fühlt. Laut dem Anthropologen Paul Ekman gibt es bei Menschen nur sieben „Basisemotionen“: Freude, Wut, Ekel, Furcht, Verachtung, Traurigkeit und Überraschung. Und genau diese Emotionen können Menschen auf der ganzen Welt bei anderen Menschen erkennen. Egal, welchen kulturellen oder sozialen Hintergrund sie haben. Ekmans Ergebnisse stehen zwar immer wieder in der Kritik, Fakt ist aber, dass der Mensch die Fähigkeit besitzt, die Mimik anderer Menschen zu lesen und – was noch wichtiger ist – nachzuempfinden. Denn natürlich bringt es nichts, wenn ich sehe, dass jemand wütend ist, aber nicht weiß, was das bedeutet. Dieses Nachempfinden übernehmen bei uns sogenannte Spiegelneuronen. In unserem Hirn wird die Emotion, die wir sehen verarbeitet und „gespiegelt“. So können wir beurteilen, ob unser Gegenüber uns als nächstes eher umarmt oder erwürgt. Emotionen zu erkennen und nachzuempfinden ist für uns überlebenswichtig. Nicht nur, weil wir erkennen können, ob wir als nächstes einem Angriff oder einer Umarmung ausgesetzt sind, sondern auch für unser soziales Zusammenleben. Die Fähigkeit zur Empathie garantiert den sozialen Frieden.
Auch über Grenzen hinweg
Über die Jahrtausende haben wir diese Fähigkeit so optimiert, dass wir nicht nur die Gefühle unserer Artgenossen lesen und nachempfinden können, sondern auch die anderer Säugetiere. Dauerhaft angelegte Ohren – ob nun beim Pferd, beim Hund oder der Katze – bedeuten immer eine negative Grundstimmung. Zähne zeigen – ob beim Löwen oder dem Flusspferd – ist eine passiv-aggressive Drohgebärde.
Und genau das bringt uns zum Bären zurück. Dompteure sind Spezialisten darin, Körpersprache und Mimik ihrer Tiere zu lesen. Sie wissen, was es bedeutet, wenn bei dem einen Löwen der Schwanz peitscht und beim anderen das linke Ohr zuckt. Sie können im besten Fall also jede Reaktion zumindest vorausahnen und sich darauf vorbereiten. Beim Bären aber hat es der Dompteur mit einem Tier zu tun, dass exakt dies nicht kann. Der Bär verfügt über so gut wie keine, oder nur minimale Körpersprache und Mimik. Denn: Er hat es nicht nötig, anderen zu drohen oder zu zeigen, dass er friedlich ist. Er ist in seinem Habitat die unumstrittene Nummer 1. Bären müssen weder die Ohren anlegen noch mit dem Schwanz wedeln. Sie ziehen auch nicht die Lefzen hoch und drohen, indem sie knurren. Sie geben allenfalls nur sehr schwache Hinweise auf ihr Innenleben und ihre Stimmung. Deshalb sind Bärenangriffe meist überraschend und nicht vorherzusehen. Sie kommen quasi aus dem Nichts. Das bedeutet: Für einen Dompteur ist ein Bär immer eine unbekannte Größe. Er ist ein nicht einzuschätzendes Risiko. Ein Risiko in Form eines Raubtiers mit einer Länge von über 2 Metern, bis zu 900 kg Gewicht.